Veröffentlicht am 14.06.2020 von Julia Grünewald
An dieser Stelle veröffentlichen wir für euch einen Text von FVAler Rudi Pätz aus dem Jahr 1932. Die Schilderungen vermitteln einen guten Eindruck von der noch etwas abenteuerlichen Segelfliegerei der beginnenden 30er Jahre. Infolge recht unbekümmerter Ausnutzung der speziell in Gewittern anzutreffenden enormen Aufwinde, für die die damaligen Segelflugzeuge noch weniger geeignet waren als die heutigen, sowie wegen der fehlenden Instrumente für Wolkenflug wurde manches Flugzeug zerstört, und einige Piloten bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Rudi Pätz traf es glücklicherweise nicht so hart. Aus der “Flugsport” 1932, Nr. 13:
Seit einigen Tagen herrscht auf dem Flugplatz Wiesbaden-Mainz reger Schleppflugbetrieb. Allmählich haben wir 12 Segel- und Motorflieger uns auf dem Übungssegelflugzeug “Falke” eingeflogen. Heute soll der Übergang auf Leistungssegler erfolgen. In der Halle steht der “Cumulus”, ein Segelflugzeug vom Professortyp, auf dem Peter Riedel gerade vor 8 Tagen seinen 160-km-Flug von der Wasserkuppe nach Plauen ausgeführt hatte. Das Wetter scheint günstig zu sein, es ist fast windstill: von Südwest nach Nordost zieht sich eine ununterbrochene Wolkenreihe über den Himmel, geradezu eine Einladung zum Überlandsegelflug. Aber das kommt für uns nicht in Frage, wir sind zu zwölft und haben nur wenige Tage Zeit, darum lautet die Parole: Zurück zum Platz, Außenlandung verboten.
Riedel legt mir nochmal das Schicksal des ihm lieb und teuer gewordenen “Cumulus” ans Herz, dann machen wir uns startklar. Ich habe noch einen kleinen Kampf mit den Fallschirmgurten auszufechten, denn ich lege diesen Rettungsgürtel zum ersten Male an. Unser lieber chinesischer Freund Sun weiß aber genau Bescheid und verstaut mich kunstgerecht in die Kiste. Fluglehrer Stamer prüft Befestigung der Leine und Anschnallgurte, dann kann es losgehen. Im letzten Moment kommt noch der Herr Flugplatzleiter: “Fliegen Sie gut, die Stadt Wiesbaden hat einen Preis von 100,— RM für den ersten Stundenflug über Wiesbaden ausgesetzt.” Ein letztes “Hals- und Beinbruch, toi, toi, toi”, und schon muss ich meine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, Höhe und Abstand vom Schleppflugzeug “Flamingo” richtig einzuhalten.
Bei 60 - 65 km/Std. Vorwärtsgeschwindigkeit steigen wir ziemlich rasch. Ab und zu kann ich einen Blick auf die Umgegend tun, um mir neue Orientierungspunkte einzuprägen. Viel Zeit dazu ist nicht, denn die Luft wird unruhig, der Flamingo tanzt auf und ab und ist meist gerade dann im Abwind, wenn der Cumulus nach oben will. In 400 m Höhe über Grund gibt Riedel das Zeichen zum Ausklinken, ich löse die Verbindung mit dem Flamingo. Er sticht steil nach unten und hinterlässt mir zum Abschied eine kräftige Bö, auf die der Cumulus recht unangenehm reagiert. Nun nehme ich Kurs auf Wiesbaden, immer langsamer fliegend, bis bei 45 km/Std. die günstigste Geschwindigkeit erreicht ist. Das Variometer zeigt Steigen mit 0,5 m/Sek., langsam kommt auch der Höhenmesser nach. Über Wiesbaden sind bereits weitere 100 m Höhe gewonnen, aber bald geht es wieder abwärts. Alles Klopfen an den Instrumenten hilft nichts, die Maschine fällt wieder mit 1 m/Sek.
Ich muss versuchen, ein größeres Aufwindfeld zu finden. Der Rauch von Biebrich treibt langsam nach Südwesten, den Wolken gerade entgegen. In der Ferne liegt ein starker Regen, der immer näher kommt. Dazwischen wird also wahrscheinlich starker Aufwind herrschen. Aber bis dahin ist es zu weit, ich habe schon den Rhein überflogen und nur noch 400 m Höhe. Es wird Zeit umzukehren. Es gelingt mir, die Höhe zu halten, und als ich wieder einmal das Variometer klopfe, rückt der Zeiger ein klein wenig nach Steigen. Das gibt neue Hoffnung, bald rückt er weiter und bleibt nun immer zwischen 0,5 und 1 m/Sek. Steigegeschwindigkeit.
Bald bin ich 600 m über Wiesbaden, überall stehen die Leute und schauen zu mir herauf. Ich freue mich und fliege immer wieder dorthin, wo die noch einige hundert Meter über mir hängenden Wolken Aufwind anzeigen. Manchmal geht es auch wieder abwärts, und ab und zu versucht ein Streifen Regen mich zu stören, aber für mich steht es fest, dass ich den Stundenpreis gewinnen muss; außerdem habe ich plötzlich den Ehrgeiz, 1000 m über der Ausklinkhöhe zu erreichen. Nur der Regen aus Südwest macht mir Sorge, er liegt schon fast am Rhein, und von der Stunde fehlen immer noch 15 Minuten.
Es wird unruhiger oben, aber der Aufwind wird stärker, manchmal steige ich mit 2 m/Sek. Der Regen wird heftiger, ich setze die Brille wieder auf und wische dann und wann mit dem Taschentuch die Tropfen ab. Endlich ist die vorgenommene Höhe erreicht, der Höhenmesser zeigt 1400 m, die Zeit ist auch herum, 65 Minuten sind seit dem Loslösen vergangen. Ich bin zufrieden und möchte zum Platz zurückkehren. Es wird auch Zeit, ich bin dicht unter der Wolkenbasis, und nach dem Rhein hängen die Wolken viel tiefer. Ohne Blindfluginstrument in die böigen Regenwolken zu gehen, habe ich keine große Meinung. Aber zu einer letzten Kurve über Wiesbaden wird es wohl noch reichen. Der Cumulus steigt noch immer, und plötzlich ziehen einige Wolkenfetzen unter mir durch, im nächsten Augenblick bin ich mitten in der Waschküche. Ich drücke Fahrt an, 60, 70 Stundenkilometer, aber die Kiste steigt wie ein Fahrstuhl. Bei 80 km/Std. geb ichs auf, ich bin trotz allem auf 1700 m Höhe gestiegen.
Flugbetrieb und Schaulustige in den 30er-Jahren
Langsam ziehe ich den Knüppel wieder an bis zu 60 km/Std. und harre der Dinge, die da kommen werden. Noch immer hoffe ich, seitwärts aus den Wolken zu kommen, denn ich befand mich vorher nahe am Rande der Wolkenstraßen. Aber das milchige Weiß um mich blieb unverändert. Ich habe keine Ahnung, in welcher Lage die Maschine sich befindet.
Das Variometer meldet 3-4 m/Sek. Steiggeschwindigkeit, auch die Vorwärtsgeschwindigkeit zeigt Neigung, immer größer zu werden. Langsam nehme ich den Knüppel noch mehr heran, es hilft nichts, 1900, 2000 zeigt der Höhenmesser, es bleibt nichts als abwarten. Ich weiß, über kurz oder lang wird die Maschine nicht mehr zu halten sein und entweder über den Flügel abschmieren oder trudeln. 2100 m, 2200, die Geschwindigkeit nimmt ganz toll zu. 70, 80, 90 Stundenkilometer, harte Böen treffen die Maschine, 100 km, die Skala ist zu Ende, der Zeiger zittert am Anschlag, plötzlich ein harter Ruck, ich schlage mit dem Kopf auf das Randpolster des Sitzes, noch einer, der Kopf schlägt hinten an und wieder nach vorne, die linke Hand verliert den Halt, die rechte wird vom Knüppel gerissen, ich höre es krachen und brechen, und ebenso plötzlich ist alles still . . . aber ich bin allein. Gleichzeitig denke ich: Kiste montiert ab — was wird Peter Riedel sagen, dass der Cumulus dahin ist, welch Glück, gerade heute einen Fallschirm mitzuhaben. Ich warte auf den Öffnungsruck des Schirmes, aber nichts ereignet sich. Abgerissen, denke ich, verloren, 26 Jahre, 2000 m Höhe, da bleibt nichts übrig.
Ringsherum nichts als weiße Milch, irgendein kleiner Gegenstand fällt einige Meter neben mir, — und da, hinter mir, an meinen Gurten, ein braunes Paket, der Schirm. Ich reiße es an mich, klemme es zwischen die Beine, reiße an der Leine — da ist alles wieder weg. Endgültig aus. Doch nein, über mir wölbt sich eine gelblich-weiße Kuppel, ganz sanft hat sich der Schirm geöffnet, ich bin gerettet.
Langsam pendele ich hin und her, beruhigend fallen Regentropfen auf den gespannten Stoff. In der linken Hand habe ich noch das Taschentuch zum Brillenputzen, die Brille selbst ist weg. Ich schaue auf die Uhr: 16:07. Was wird nun werden? Werden mich die starken Aufwindströmungen in den Wolken halten? Möglich wäre es. Vorher stieg ich mit 4 m/Sek., also muss der Aufwind mindestens 5 m/Sek. gewesen sein, und in dieser Größe etwa hält sich die Sinkgeschwindigkeit eines Fallschirmes.
Nach einigen Minuten zeigt sich doch ein Loch, kurz daraufhin ich schon unter den Wolken. Ich treibe über dem Stadtwald, hinter mir Wiesbaden in starken Regengassen, vor mir die ersten Taunushöhen. Wo wird wohl der Bruch des Cumulus liegen? Aber was ist das, da fliegt ja einer unten ganz dicht überm Wald, ohne Zweifel ein Segelflugzeug, ob das wohl —? Kaum möglich, oder doch? Jetzt setzt er sich in die Baumkronen, bis herauf in meine Höhe von etwa 300 m höre ichs rauschen. Bestimmt, es ist der Cumulus. Aber wie konnte ich dann derartig herausbefördert werden?
Ich habe keine Zeit mehr zum Nachdenken, immer schneller geht es der Erde zu. Rasch noch orientieren: eine Landstraße durch den Wald, führt nach Wiesbaden, die Maschine liegt knapp daneben auf den Bäumen, kurz vor einer S-Kurve, ich selbst werde auf der anderen Seite landen, weiter weg von Wiesbaden, auf einer Wiese? Nein, der Wind ist zu stark, also im Wald. Beine zusammen. Hände griffbereit, gleich bin ich da. Im letzten Moment ziehe ich mich doch etwas an den Schnüren hoch, instinktiv und voller Optimismus, dadurch den Anprall zu mildern. Es hätte bestimmt nichts genützt, doch es geht auch so gut. Ein Ast schlägt mich hinters Ohr, dann liege ich in der Krone einer Kiefer. Leise rauschend legt sich der Schirm über die benachbarten Bäume.
Die Wunde hinterm Ohr blutet etwas, nicht schlimm. Ich versuche den Schirm zu bergen, es geht nicht. Also losgeschnallt und runter vom Baum. Das ist das Schwierigste vom Ganzen. Der rechte Arm tut nicht ganz mit. Ich fürchte, noch bei den letzten 15 m die Knochen zu brechen, denn es sind nur noch morsche Aststummel vorhanden, die stets abbrechen, zu kurz, um sich daran noch festhalten zu können, aber gerade lang genug, um die Hosen zu zerreißen, was sie auch prompt tun. Endlich bin ich unten, es gießt in Strömen.
Einem Landstreicher eher ähnlich als einem Flieger, mit zerrissenen, beschmutzten Kleidern, durchnässt, das Haar wüst durcheinander, suche ich Zuflucht in der Josephhütte. Sie ist voll von Spaziergängern, die mich misstrauisch mustern. Einige erkennen die wahre Natur des “Rettungsgürtels”, den ich überm Arm trage, und nun erfahre ich, dass der Cumulus aus den Wolken heraustrudelte, nach einigen Turns in den Rückenflug überging und so irgendwo in den Wald fiel. Man zeigt mir den Weg zur Landstraße, und meines wiedergewonnenen Lebens froh, marschiere ich heiter gen Wiesbaden. In einer Kurve braust ein Motorrad heran, ich erkenne Frl. Mendel, eine Kursteilnehmerin, und unseren Chinesen. Sie waren auf die Nachricht von einem abstürzenden Flugzeug mit sämtlichen abkömmlichen Flugplatzleuten sofort losgebraust, vermuteten aber nicht, mich noch unversehrt zu finden. So ist denn die Freude groß, und Herr Stamer blüht sichtlich auf, als er mich auf beiden Beinen erblickt. Das Flugzeug ist inzwischen auch gefunden worden, es scheint ziemlich unversehrt zu sein.
Bei der Bergung am nächsten Tag klären sich auch die letzten Rätsel, die Schmerzen im Arm und das Nichtöffnen des Fallschirmes. Ich bin, wahrscheinlich im Kern des Sturmwirbels, seitwärts durch die rechte Bordwand geworfen worden, wobei ich den Rumpfholm und die 2 mm starke Sperrholzbeplankung durchschlug. Die Reißleine des Fallschirms, die im Flugzeug festgebunden war, ist dann entweder an einem Eisenbeschlag gerissen oder von der durchgedrückten Sperrholzwand zersägt worden. Das abgerissene Ende liegt noch im Rumpf. Bis auf das Loch in der Bordwand und einigen bei der Bergung zerbrochenen Flügelrippen ist auch die Maschine heil geblieben, so dass die ganze Angelegenheit, die leicht hätte tragisch werden können, immer mehr ins Märchenhafte umschlägt. Und um das Maß voll zu machen: die 100 Mark für den Stundenflug über Wiesbaden habe ich auch bekommen.